Die verheiratete Meermaid - O. Wolff


Ein Märchen der Shetland Inseln


An einem schönen Sommerabende ging ein Einwohner von Unst auf dem sandigen Rande einer Voe spazieren. Der Mond hatte sich erhoben, und er sah bei dessen Licht eine Menge Unterirdischer, die eifrig auf dem weichen Sande tanzten. - Neben ihnen lagen mehrere Seehundfelle auf der Erde.
Als der Mann den Tänzern näherte, hörten sie alle plötzlich auf, und eilten schnell wie der Blitz ihre Gewänder in Sicherheit zu bringen; dann sich ankleidend, sprangen sie als Seehunde in die See. Da nun der Shetländer die Stelle betrat, wo sie gewesen waren, und die Augen auf den Boden richtete, bemerkte er, dass sie eins von den Fellen, dass gerade vor seinen Füßen lag, zurückgelassen hatten. - Er ergriff es, trug es schnell fort und brachte es in Sicherheit.
Als er an's Ufer zurückkehrte, sah er das schönste Mädchen von der Welt; es ging auf und nieder, und beklagte in den traurigsten Tönen den Verlust seines Seehundgewandes, ohne welches es nie hoffen konnte, wieder zu seinen Verwandten und Freunden unter dem Wasser zurückzukehren, sondern wider Willen auf der Oberwelt bleiben musste.
Der Mann näherte sich der Jungfrau, und versuchte sie zu trösten; umsonst, sie wollte nicht getröstet sein. Sie bat ihn in den rührendsten Ausdrücken, ihr das Gewand zurückzugeben; aber der Anblick ihres holdseligen Gesichtes, dass die Tränen noch verschönten, hatten sein Herz verhärtet. - Er stellte ihr die Unmöglichkeit ihrer Rückkehr vor, dass ihre Freunde und Verwandten sie endlich aufgeben würden, und schloss damit, dass er ihr sein Herz und seine Hand antrug.
Da sie fand, dass ihr nichts anderes übrig blieb, willigte sie zuletzt ein, seine Frau zu werden. Sie wurden verehelicht und lebten manches Jahr miteinander, während welcher Zeit sie mehrere Kinder zeugten, die außer einer dünnen Haut zwischen den Fingern und einer Beugung der Hand, wodurch diese Ähnlichkeit mit der Vorderpfote eines Seehundes bekam, keine weiteren Spuren ihrer seeischen Abkunft an sich trugen; jene Merkmale charakterisieren aber noch heutigen Tages die Abkömmlinge dieser Familie.

Des Shetländers Liebe zu seinem schönen Weibe war unbegrenzt; sie erwiderte hingegen seine Neigung nur sehr kalt. Oft schlich sie sich allein fort, und eilte zum einsamen Strande, wo auf ein gegebenes Zeichen ein sehr großer Seehund erschien, mit dem sie sich ganze Stunden unterhielt; gewöhnlich kehrte sie dann nachdenkend und traurig nach Hause zurück.
Jahre verstrichen, und ihre Hoffnung die Oberwelt verlassen zu können, war fast gänzlich erloschen, als die Kinder zufällig eines Tages ein Seehundfell hinter einem Haufen Getreide fanden. Erfreut über diese Beute, liefen sie eifrig zu ihrer Mutter, ihr dasselbe zu zeigen. - Mit Entzücken betrachtete jene das Fell; denn sie erkannte ihr Gewand, dessen Verlust sie so betrübt hatte. Jetzt glaubte sie sich von allen Banden befreit, und war in Gedanken schon bei ihren Freunden unter den Wellen. - Eins nur gab es, das ihrer Wonne Fesseln anlegte. Sie liebte ihre Kinder zärtlich und sollte sie jetzt für immer verlassen. - Doch wogen diese die Lust, die ihrer wartete, nicht auf; deshalb umarmte und küsste sie sie, ergriff das Fell und eilte an den Strand.
Gleich nachher kam ihr Gatte heim und die Kinder erzählten ihm, was sich zugetragen hatte. Er erriet augenblicklich das Wahre, und eilte, von Angst und Liebe getrieben, ihr nach. - Doch kam er nur an, um zu sehen, wie sie in der Gestalt eines Seehundes, herab vom Felsen in die Flut sprang. -
Der große Seehund, mit dem sie sich für gewöhnlich zu unterhalten pflegte, gesellte sich alsbald zu ihr, wünschte ihr Glück zu ihrer Flucht, und beide verließen zusammen das Ufer. - Ehe sie aber schied, wandte sie sich zu ihrem Gatten, der in stummer Verzweiflung auf dem Felsen stand, und dessen Trauer ihr Mitleid erregte. Lebe wohl! Rief sie ihm zu, alles Glück mit Dir. - Ich habe Dich wahrhaft geliebt, so lange ich bei Dir war, aber meinen ersten Gatten liebe ich stärker.

Quelle:
Die schönsten Märchen und Sagen aller Zeiten und Völker Band 1 - O. Wolff (1850)


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